Theatertreffen der Jugend - Wunderland
Vorweg: die Einführungsveranstaltung
zum Theatertreffen der Jugend 2016 kann nicht unkommentiert bleiben.
Woran das liegt? Es ist Tradition, dass die eingeladenen Produktionen
sich gegenseitig in einem auf der Bühne inszenierten Trailer dem
Publikum vorstellen, wobei es diesmal eine Auseinandersetzung gab.
Grund dafür war der Trailer der Aachener Theatergruppe rohestheater,
die die Produktion “One day I went to *idl” der akademie der
autodidakten, bestehend aus 13 jungen Geflüchteten und
postmigrantischen Jugendlichen des Ballhaus Naunynstraße
präsentieren sollten.
"Es folgten Buhrufe"
Die Schauspieler*innen von rohestheater
stellten sich in einem Halbkreis auf die Bühne und riefen im Chor:
“One day I went to Lidl.” Als dann folgte: “Wer hat Angst vor'm
schwarzen Mann? / Niemand. / Und wenn er kommt? / Dann schließen
wir!”, zuckten die ersten Menschen im Publikum bereits zusammen.
Der Höhepunkt an klischeehafter, rassistischer Darstellung wurde
aber erreicht, als die Schauspieler*innen durchs Publikum liefen und
Bananen verteilten. Es folgten Buhrufe und eine wütende Zuschauerin,
die auf die Bühne stürmte, weil sie sich als Farbige von dieser
Darstellung angegriffen fühlte. Zu Recht, denn was dort als Trailer
gezeigt wurde, kann leider nur als rassistisch bezeichnet werden.
"immer noch und weiterhin ein rassistisches Statement."
Hier kann nicht auf “künstlerische Freiheit”, wie eine der
Aachener Schauspieler*innen einwarf, oder Ironie zurückgegriffen
werden, denn dafür fehlte eindeutig die reflektorische und kritische
Ebene in der Darstellung. Eine Aufführung wird nicht weniger real,
nur weil der Rahmen “Theater” darum gesetzt ist. Sie muss sich
innerhalb der Darstellung immer selbst hinterfragen und kann nicht
unkommentiert im Raum stehen bleiben. Denn dann ist es halt einfach
immer noch und weiterhin ein rassistisches Statement.
Kurz bevor die für diesen Abend
angesetzte Inszenierung losging, begab sich Christina Schultz,
Leiterin des Theatertreffens der Jugend, samt der akademie der
autodidakten auf die Bühne und verkündete, es könne in Anbetracht
der Vorkomnisse des Abends nicht einfach mit dem Rahmenprogramm
weitergemacht werden, sondern es müsse Raum zur Diskussion und zum
Austausch geben. Wann und wo dieser Raum eingerichtet werden solle,
wurde jedoch nicht verraten, denn nach der kleinen Ansprache
verließen alle wieder die Bühne und es wurde eben doch das
Rahmenprogramm weitergeführt. Nun gut, wir bleiben gespannt, welche
Nachwirkungen der Vorfall noch mit sich bringt. Bis dahin werfen wir
einen Blick auf die Inszenierung des Abends!
“Wunderland” nennt sich die 2015
erstmals aufgeführte Produktion des Theaterjugendclubs “Sorry,
eh!” vom Schauspiel Leipzig. Es basiert auf einer Textcollage von
Gesine Danckwart und bedient sich einiger Szenen ihres Stückes
“Girlsnightout”.
"... unbändige Energie der Jugendlichen"
Die Inszenierung kann man nicht nur
sehen und hören, sondern vor allem spürt man permanent diese
unbändige Energie der Jugendlichen, die mal rennen und schreien, mal
singen und flüstern, aber immer hundertprozentig präsent sind. Nach
ruhigeren Momenten wird die Energie entweder durch Bewegung, Musik
oder die Stimme immer wieder hochgerissen und das spürt das
Publikum. Auch schauspielerisch haben die Darsteller*innen zum Teil
eine beeindruckende Leistung abgeliefert!
Ein ständig wiederkehrendes, sehr
kraftvolles Element ist der Chor, den die Schauspieler*innen bilden.
Er lässt Textpassagen automatisch kraftvoller wirken und schreibt
somit bestimmte Stichworte und Sätze viel stärker in die Köpfe des
Publikums ein. Es ist immer was los auf der Bühne, aber nie so, dass
man den Überblick verliert und alles in zusammenhanglosem Chaos
versinkt. Auch die Übergänge sind größtenteils fließend
gestaltet, sodass das Publikum von Szene zu Szene mitgezogen wird,
ohne sich zwischendrin zu verlieren. Außerdem wird gesungen auf der
Bühne, mal im Chor, mal als Solo, mal mit Gitarre, Bass oder Klavier
untermalt, mal wird einfach Musik eingespielt, wie zum Beispiel
“Can't stop” von den Red Hot Chili Peppers. Die Wirkungsweise
variiert dabei von ironisierendem Element bis hin zu musikalischer
Begleitung zu ernsteren Textpassagen.
"Hier wird der Leistungsdruck thematisiert, der einem
scheinbar von der Gesellschaft auferlegt wird."
Worum aber geht es? Grob gesagt geht es
ums Leben. Ein wenig präziser: Es geht um Einsamkeit und Liebe,
Selbstakzeptanz und Selbsthass, Ausreden und Wahrheiten gegenüber
sich selbst und anderen, Druck durch Eltern, Freunde,
Artbeitgeber*innen, Social Media, Apps; immer und von allen Seiten.
Das Gefühl, in einem Glaskasten zu stecken und ausbrechen zu wollen.
Dies wird durch die wiederkehrende pantomimische Geste kenntlich
gemacht, in der die Schauspieler*innen von Glasscheiben umgeben zu
sein scheinen. “Ich muss diese glatten, weißen Wände hoch”,
hört man eine Darstellerin sagen, während die pantomimischen Wände
immer näher auf den Rest der Akteur*innen zukommen. In einer anderen
Szene heißt es “Wenn du was aus dir gemacht - / hast du aber
nicht!” Hier wird der Leistungsdruck thematisiert, der einem
scheinbar von der Gesellschaft auferlegt wird. Verzweifelt wird auf
das “ok” gewartet, das einen für die getane Arbeit entlohnt und
während der Druck immer weiter wächst, wird gar nicht bemerkt, dass
die zwei befreienden Buchstaben bereits auf den Bildschirmen mi
Hintergrund der Bühne aufleuchten. Von wo kommt also dieser
auferlegte Druck? Tatsächlich von der Gesellschaft? Von Freunden?
Von Konkurrenten? Von einem selbst?
"zwischenzeitlich dreht sich alles um Sex,
Alkohol und Zigaretten"
Immer wieder wird in der Inszenierung
auch das Thema nicht nur des Körpers, sondern auch der inneren
Selbstwahrnehmung aufgegriffen. In Verbindung mit Social Media
untersuchen die Schauspieler*innen, ob und inwiefern Ehrlichkeit in
der Präsentation unseres Selbstbildes nach außen und
nach innen überhaupt noch eine Rolle spielt. “Allen geht es gut”,
wird die Botschaft durch Fotos von einem breiten Grinsen in die Welt
gepostet. Alle präsentieren scheinbar nur diese eine, um sich selbst
herum konstruierte Seite in sozialen Plattformen. Aber wie viel
Ehrlichkeit spielt auch im wahren Leben eine Rolle? Wie viel wollen
wir tatsächlich von uns preisgeben? Mit dieser Frage beschäftigen
sich die Darsteller*innen am Ende des Stücks und heraus kommen
verschiedene Meinungen und Gedanken, die Raum für eigene
Überlegungen und Anschlusskommunikation lassen.
In der
Inszenierung werden übermäßig viele und übermäßig beleidigende
Schimpfworte verwendet, zwischenzeitlich dreht sich alles um Sex,
Alkohol und Zigaretten, dann wieder um Liebe, Selbstwahrnehmung und
moralische Werte. Was ist richtig, was ist falsch und vor allem wer
ist richtig und wer ist falsch? “Wunderland” ist ein Wirbelwind,
der viele Fragen anreißt, einige mehr, einige weniger ausführlich
untersucht, aber permanent hinterfragt. Alles und jeden. Und das ist
gut so!
Text: Jessica Müller
Fotos: Rolf Arnold
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