Theatertreffen der Jugend - Ehrlos

Was passiert, wenn bestimmte Dinge, bestimmte Ansichten oder bestimmte Meinungen in einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft oder einer Freundschaft nicht zu ertragen sind? Wenn Toleranz als einziges Hilfsmittel nicht mehr ausreicht? 
Dieser Frage geht die Bielefelder Theatergruppe “Parallele Welten” in ihrem Stück “Ehrlos” auf den Grund und untersucht alle möglichen und unmöglichen Ebenen des Begriffs der Ehre.




Die Gruppe besteht, anders als die restlichen präsentierten Stücke beim Theatertreffen der Jugend diesen Jahres, nicht nur aus jüngeren Darsteller*innen, sondern setzt sich aus Menschen im Alter von 13 bis 74 Jahren zusammen. Hier treffen drei Berufstätige, eine Pensionärin, eine Studentin und fünf Schüler*innen mit bosnischen, russischen, türkischen, deutschen, polnischen und ungarischen Wurzeln aufeinander. Zusammen mit den beiden Theaterpädagog*innen Canip Gündogdu, Martina Breinlinger und dem Musiker Daniel Mandolini wurde das Stück nach und nach erarbeitet. Aus Improvisationen, persönlichen Geschichten, Interviews, Recherchearbeit und Workshops entstand so innerhalb eines Jahres die Produktion “Ehrlos”.

 "sexistische Antworten und stets ein quäkendes Geräusch"

Der Beginn des Stücks ist unverfänglich; das Publikum betritt den Saal, die Darsteller*innen stehen bereits auf der Bühne und bewegen sich, bis einer von ihnen ans Mikrofon tritt und verkündet: “wir haben schon angefangen.” Es folgt ein kurzes Interview eines türkischstämmigen Schauspielers, was für ihn ein Mann sei, wobei auf sexistische Antworten stets ein quäkendes Geräusch vom Rest der Schauspieler folgt. Es geht also mitten rein ins Thema.


Kleinere Teilgeschichten ziehen sich neben solcher Interviews durchs Stück. Thematisiert wird die Geschichte eines Mannes, den die Pensionären als ihren Vater vorstellt, wie er einer Schwangeren zu helfen versucht und dabei am Ende scheitert und davonläuft. Ein türkischstämmiges Mädchen erzählt von ihrem Wunsch nach Freiheit und Rebellion und vom Zwang zum Gehorsam. Ein anderes Mädchen outet sich vor ihrer besten Freundin als lesbisch und ein junger türkischstämmiger Mann wächst in einem Zwiespalt zwischen Familientradition und eigenen Wünschen auf. Hierbei wird der Fokus stets auf die Geschichten gelegt und die ganze Gruppe, bis auf den/die Protagonist*in der jeweiligen Geschichte, dienen als Mittel zum Zweck der Darstellung. Mal als Familie, mal als innerer Monolog, mal als Geräuschkulisse. So gibt es zwar eine Rollenverteilung im Stück, bezogen auf die Protagonist*innen, jedoch werden diese je nach erzählter Geschichte immer wieder aufgelöst und verändert, was der Dynamik des Stückes sehr zugute kommt.

"Aus Angst vor Ehrverlust"

Während anfangs die Szenen oft lange aufgebaut werden und anschließend in Text- und Dialogform näher erläutert werden, verflüssigt sich der Ablauf im weiteren Verlauf immer mehr. Die Geschichten und Szenen bleiben jedoch überwiegend als einzelne, recht abgetrennte Elemente erkennbar.
Ehre ist ein Wort, das alles und nichts bedeuten kann. Während dem einen die Ehre “am Arsch vorbei” geht, ist dem anderen die Familienehre heilig. Eine russische Schauspielerin erklärt, dass es in ihrer Kultur ehrenvoll sei, andere Leute unter den Tisch trinken zu können. Ein anderer Schauspieler stellt die Frage, was “eine Frau abends, geschweige denn um Mitternacht, auf der Straße” zu suchen hätte. “Nichts,” folgt sogleich die Antwort. Wiederum erzählt eine andere Schauspielerin davon, wie sie von ihrer Familie geschlagen und beleidigt wird, nur weil ein Junge in ihrem Zimmer war und sich verabschiedet hat. Ohne Körperkontakt. Aus Angst vor Ehrverlust.
Das Thema “Outing” wird im Stück behandelt, als die betreffende Schauspielerin während einer Gemeindeszene in der Kirche nach ihrer Ausgrenzung aus der Gemeinde die Langhaarperücke abnimmt und ihr Oberteil auszieht. Darunter trägt sie ein hautfarbenes, bauchfreies Top mit der Aufschrift “GAY”. Das Publikum brach an dieser Stelle in Applaus aus.



Auch die Verwendung von Vorurteilen und emotional aufgeladenen Themen wie Religionskonflikten wirkt angebracht, denn jedes Mal werden die Darstellungen kritisch hinterfragt – oft auch auf humorvolle Art. So wird nach dem Quizduell von Bibel- und Koranzitaten gefragt: “Wo hast du eigentlich die ganzen Zitate her? Aus'm Internet, wa?” In Anbetracht der unzähligen Interpretationsweisen der heiligen Verse, nimmt diese sarkastische Frage dem ganzen Thema ein wenig von seiner Schwere.

"Wie finden Ehre und Toleranz da zusammen?"

In der Produktion wird erkennbar, wie viele Ebenen das Wort “Ehre” mit sich bringt. Aber egal ob in der Familie oder zwischen Freunden, im Job oder in der Liebe, in der Religion oder der Sexualität, in Fragen der Weiblich- oder Männlichkeit, eines bleibt gleich: Ehre ist immer subjektiv konstruiert. Es gibt nicht die eine Ehre, die jeder Mensch gleich empfindet. Und genau hier sind wir wieder beim anfänglichen Problem der Toleranz. Ehre kann ein unglaublich emotional aufgeladener Begriff sein, für den gekämpft, gestorben und sogar gemordet wird. Wie finden Ehre und Toleranz da zusammen?
Darauf gibt das Stück zwar keine Antwort, aber genau das ist es ja, was Kunst will: sie will Kunst sein und keine Einbahnstraße zur ultimativen Lösung aller Probleme. Sie will Diskurse öffnen, statt den Blick zu schließen. Leider werden aber im Stück so viele Themen und Ebenen angerissen, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll und die eigene Überforderung mit der Komplexität des Themas kann schnell dazu führen, dass die Beschäftigung damit aufgegeben wird. Jedoch ist diese Vielfältigkeit an Blickwinkeln in Anbetracht der bunten Durchmischtheit der Truppe und der Entstehungsgeschichte des Stückes durchaus legitim. Überforderung stellt schließlich auch immer eine Herausforderung an sich selbst dar. Und nur daran wächst man.

Text: Jessica Müller
Fotos: www.theater-bielefeld.de

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