Selbstreflexion und Therapiesitzung - Are you with us?



Bevor ich den Bühnenraum betrete, werfe ich einen Blick ins Programmheft und mir stockt der Atem. Vier Stunden?! Die Performance „Are you with us?“ von Gob Squad dauert wirklich vier Stunden? Meine Angst wird jedoch drastisch gemindert, als ich den Zuschauerraum erblicke, der mit Matratzen und Kissen gefüllt ist. Und tatsächlich – es dauert nicht lange und der Großteil des Publikums fühlt sich schon wie zu Hause. Es werden Schuhe ausgezogen, sich hingefläzt, zwischendurch mal Biernachschub geholt. Auch ich mache es mir gemütlich, um Gob Squad auf ihrer gemeinsamen Reise zu sich selbst und zu den zentralen Fragen eines Kollektivs zu begleiten.


Vorstellung vom 23. Mai 2017 am Hebbel am Ufer
Rezension von Jessica Müller


In „Are you with us?“ stellen sich Gob Squad ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was passiert mit einem, wenn man seit über 20 Jahren gemeinsam Theater macht? Welche Ereignisse waren prägend, vielleicht sogar traumatisierend und wer ist man dadurch geworden? Wer würde man gerne sein und wie beeinflussen diese Erfahrungen die eigene Zukunft? Was sich nach tiefgründigen Therapiefragen anhört, ist im Grunde auch genau das. Gob Squad inszenieren verschiedene Therapiesitzungen, die immer nach dem gleichen Schema ablaufen. Eine*r stellt die Fragen, alle anderen versuchen ihr bestmöglichstes, um diese Fragen zu beantworten. Dies geschieht auf sehr unterschiedliche Weise. Mal wird getanzt, mal werden Erlebnisse (egal ob real oder fiktiv) reenacted, mal wird mit dem Finger auf andere gezeigt. Und genau deshalb (und aufgrund von nicht zu knapp integriertem Humor) wird das Stück trotz außerordentlicher Länge und gleichem Ablaufschema nie wirklich langweilig. Man taucht nicht nur tiefer in die Geschichte der Gruppe ein, sondern lernt auch jede*n Performer*in auf so intensive Weise kennen, dass man sich schon fast selbst als Teil des Kollektivs fühlt.

-gemeinsam Erlebtes, authentische Reaktionen-


Dies wird auch noch durch die spontanen Gefühlsausbrüche oder Kommentare der Performer*innen unterstrichen. Man sieht ehrliche Lacher über gemeinsam Erlebtes, authentische Reaktionen auf Situationskomik und verletzte Blicke, wenn das Unsagbare ausgesprochen wird. So wird das Publikum, auch wenn es nicht aktiver Teil des Stückes ist, wie in anderen Arbeiten Gob Squads, in eine so intime Situation gezogen, dass man gar nicht anders kann, als mit den Darsteller*innen mitzufühlen. Hier muss jedoch deutlich der theatrale Rahmen betont werden, denn auch wenn Emotionen und Improvisationen authentisch wirken, befinden wir uns immer noch im Theater. So ganz sicher kann man sich also nie sein, was nun echt ist und was inszeniert. Aber wie man es auch dreht und wendet, es bedeutet entweder, dass man echte Emotionen auf der Bühne sieht, oder dass es sich einfach um verdammt gute Schauspieler*innen handelt. Und beides halte ich für überaus sehenswert.





Das Bühnenbild darf in diesem Kontext jedoch auch nicht unerwähnt bleiben. Man schaut praktisch permanent nur auf zwei Bildschirme, auf die per Kamera projiziert wird, was hinter ihnen geschieht. Man weiß also, dass die Darsteller*innen sich tatsächlich hinter den Bildschirmen befinden, denn man sieht sie hin und wieder mal am Rand stehen oder sitzen, gerne auch mal, wenn sie sich ein Gläschen Sekt einschenken. Aber die tatsächliche Spielsituation bleibt dem Auge des Publikums vorenthalten. Hier wird also mit einem deutlichen Distanzmittel gearbeitet, das meiner Meinung nach genau das richtige Werkzeug ist, um das Stück nicht zu einer sentimentalen Schnulze verkommen zu lassen.

-Hundert neue Fragen und Anknüpfungspunkte-


Auch wenn es teilweise doch ganz schön anstrengend war, vier Stunden lang verschiedensten performativen Therapiesitzungen zuzugucken, ist „Are you with us?“ eine absolut gelungene, selbstreflektierte und ehrliche Arbeit Gob Squads. Man könnte die Dauer des Stücks natürlich auch als Analogie für das Kollektiv selbst sehen – denn was sind schon vier Stunden, wenn andere Menschen über 20 Jahre lang quasi permanent aufeinander hocken? Mich hätte interessiert, ob andere Vorstellungen genauso abgelaufen sind, denn Premiere feierte das Stück bereits im Mai 2014. Ist doch alles nur geskriptet und brillant gespielt oder ist auch für das Kollektiv jede neue Vorstellung eine Überraschung? Material zu weiterführenden Fragen über die Psyche, den Körper und die Seele Gob Squads bietet das Stück auf jeden Fall zur Genüge, denn sobald sich eine Therapiesitzung dem Ende zuneigte, wurden hundert neue Fragen und Anknüpfungspunkte zutage gefördert. Doch welchen Weg Gob Squad auch immer gehen werden, die Frage bleibt – Are you with us?

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