Viel ungenutztes Potential - Bella Figura
Es ist lange her, dass ich das letzte Mal ein Stück mit tatsächlich durchgehendem Handlungsstrang und halbwegs realistischem Bühnenbild gesehen habe. Größtenteils weil mich das oft langweilt. In „Bella Figura“ von Yasmina Reza unter der Regie von Thomas Ostermeier passt es jedoch erstaunlich gut und jede dieser Bühnenbildszenerien wird so gut bespielt, dass es absolut stimmig wirkt. In dem Stück, das Reza speziell für das Ensemble der Schaubühne geschrieben hat, geht es um den Glasereibesitzer Boris, ca. Anfang vierzig, der seine Frau Patricia seit vier Jahren mit seiner Dauergeliebten Andrea betrügt. Das Stück spielt um, vor und in dem Restaurant, in dem Boris und Andrea essen gehen wollen, jedoch auf das Paar Éric und Francoise treffen, die den Geburtstag von Érics Mutter Yvonne feiern wollen. Das Bindeglied in dieser Konstellation ist Patricia, die eine langjährige Freundin von Francoise ist. Der Dinnerabend beginnt und die Dinge nehmen also ihren Lauf.
Vorstellung
vom 30. Mai 2017 an der Schaubühne Berlin
Rezension von Jessica Müller
Hier
wird deutlich, inwiefern der Theaterrahmen als Spielplatz für
Handlungsoptionen genutzt werden kann. Es ist wohl kaum
verwunderlich, dass unter eben genannter Prämisse die Entstehung
einer unangenehmen Situation ja praktisch vorausgesetzt ist. Doch
statt wie vielleicht oft im Leben den Weg des geringsten Widerstandes
zu gehen, wird hier der Finger auf die Wunde geleckt und nochmal
ordentlich reingedrückt. Andrea, gespielt von Nina Hoss, hat nämlich
keinerlei Interesse an der Entschärfung der Situation und tritt aus
voller Absicht in jedes Fettnäpfchen, das sie finden kann. Die
Protagonist*innen verbünden und verfeinden sich, verzeihen und
werfen sich Dinge vor, es ist ein Auf und Ab von intensiven
Streitmomenten und Versöhnungen. Alles gewürzt mit einer
ordentlichen Portion Selbstironie und Situationskomik.
-Selten sieht man auf der Bühne so eine perfektionierte Rollenverkörperung-
-Selten sieht man auf der Bühne so eine perfektionierte Rollenverkörperung-
Das
absolut lobenswerteste an dem Stück war jedoch ohne Zweifel die
schauspielerische Leistung des Ensembles. Mark Waschke, Stephanie
Eidt, Renato Schuch und Lore Stefanek sind auf der Bühne virtuos.
Dennoch überstrahlt Nina Hoss in dem Stück alle noch so gute
Schauspielleistung der restlichen Besetzung. Selten sieht man auf der
Bühne so eine perfektionierte Rollenverkörperung, die Hoss
scheinbar nicht einmal die geringste Mühe kostet. Dank einer so
grandiosen Besetzung kann die Sichtbarmachung der menschlichen
Abgründe, wie man sie bei Reza oft findet, erst wirklich
stattfinden. Dank einer so exzellenten Darbietung wird die
Komplexität der Figuren erst spürbar.
Trotz
aller positiven Kritik an „Bella Figura“ muss jedoch auch die
Schwachstelle des Stücks erwähnt werden: irgendwie bleibt es doch
immer an einem Punkt. Schuld daran ist wahrscheinlich auch zum großen
Teil das Ende des Stückes, das weder Höhepunkt noch Tiefpunkt des
Stückes darstellt, sondern einfach so weitermacht, wie eben das
ganze Stück schon war: zwar wird an der Oberfläche gekratzt und mal
geschaut, was sich darunter befindet, aber so ganz tief rein in den
Abgrund möchte man dann doch nicht. Das ist schade, denn gerade in
Anbetracht der Theorie, den Theaterraum als Spielplatz zu verwenden,
gibt es so viel mehr Möglichkeiten, noch tiefer in die menschliche
Psyche abzutauchen und zu erforschen, was sich dort befindet oder
befinden könnte.
-Gut herausgearbeitet ist jedoch die (Un-)Möglichkeit des menschlichen Miteinanders-
-Gut herausgearbeitet ist jedoch die (Un-)Möglichkeit des menschlichen Miteinanders-
Bella
Figura“ ist ein Stück mit viel ungenutztem Potential. Wenn schon
Wege in die Schattenseiten des Menschen suchen, dann richtig und
nicht einfach auf halbem Weg umdrehen, weil es vielleicht doch zu
dunkel werden könnte. Gut herausgearbeitet ist jedoch die
(Un-)Möglichkeit des menschlichen Miteinanders. Denn so sehr wir
manche Menschen auch lieben, manchmal sogar brauchen, so sehr können
wir sie auch manchmal absolut nicht ausstehen. Das ist mehr als
offensichtlich bei dem Pärchen Andrea und Boris, doch auch die
Mutter-Kind-Beziehung zwischen Éric und Yvonne wird durch so eine
Art Hass-Liebe bestimmt. So eine feine Ausarbeitung von emotionalen
Knackpunkten hätte ich mir auch in anderen Aspekten des Stückes
gewünscht. Dass Yasmina Reza das kann hat sie schließlich mehr als
deutlich mit dem „Gott des Gemetzels“ bewiesen, welches ebenfalls
aus ihrer Feder stammt.
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