Perspektivsuche im Gorki - The Situation



Israel, Palästina, Syrien. Konfliktgebiete, bei denen die Thematik selbst oft nur als “The Situation” bezeichnet wird. Vielleicht, weil niemand so wirklich genau weiß, wie man es anders bezeichnen könnte. Vielleicht, weil die tatsächlichen Dinge zu grauenhaft sind, um sie auszusprechen. Doch wenn über die “Situation” gesprochen wird, hat jeder eigene Bilder im Kopf. Von verletzten Zivilisten, von flüchtenden Menschen, von Waffen und Gewalt. Dass all das aber wesentlich komplexer ist, als die sofort damit assoziierten Bilder, zeigt Yael Ronens Stück „The Situation“ am Maxim Gorki Theater in Berlin.


Vorstellung vom 06. Juni 2017 am Maxim Gorki Theater
Rezension von Jessica Müller



Wie so oft bei der israelischen Theatermacherin werden im Stück autobiografische Inhalte miteinander verwoben, wobei aufgrund des Bühnenkontextes nie ganz klar ist, was nun tatsächlich real ist und was nicht. Sprechen fiktive Figuren und erzählen sie fremde Geschichten oder sind es doch ihre eigenen? Der Glaubwürdigkeit des Stückes tut dies jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, durch die Vermengung von Humor und Schwere entsteht eine Inszenierung, die das Publikum von Anfang an in ihren Bann zieht. Es ist zwar ein bekanntes Muster von Ronen, die Stimmung zunächst mit viel (manchmal auch recht schwarzem) Humor zu lockern und dann in die Tiefe zu gehen, aber es scheint ja dennoch jedes Mal zu funktionieren.

-Wer bist du? Wo kommst du her?-

Der klassische Integrations-Deutschunterricht ist die Ausgangssituation des Stückes. Hier geht es um die Basics, die W-Fragen, die von dem von Dimitrij Schaad verkörperten Deutschlehrer Stefan mit großen Gesten unterstrichen werden. Wer bist du? Wo kommst du her? Was eine simple Vorstellungsrunde hätte werden können, entwickelt sich zu einer tiefen Suche nach Identität, Heimat und Zugehörigkeit. Denn wie soll die israelische Jüdin Noa (Orit Nahmias), die mit einem palästinensischen Araber (Yousef Sweid) verheiratet ist und nun mit ihm und ihren Kindern in Deutschland lebt, denn sonst erklären, wer sie ist? Sowas lässt sich nicht einfach nur zwischen Tür und Angel erzählen. Zumal das Paar kurz vor der Scheidung steht. Aber nicht aus politischen Gründen, das betont sie.



So komplex sich diese Geschichte anhört, wird es immer komplexer, umso mehr Charaktere auf die Bühne treten. Da gibt es den Syrer Hamoudi (Ayham Majid Agha), der einen mobilen Hummus-Stand vor der Sprachschule eröffnen will. Er will eigentlich zurück in sein Heimatland, aber ihm ist klar, dass das in der momentanen Situation nicht geht. Mit viel Sarkasmus erklärt er, dass auch die Situation in Syrien komplizierter ist, als sie manchen vielleicht erscheinen mag. Karim (Karim Daoud) und Laila (Maryam Abu Khaled) sind zwei Palästinenser*innen, die beide nach einem Ort suchen, an dem sie frei leben können. Geprägt von der Gewalt und dem Hass, mit dem sie aufgewachsen sind, finden sie ihr Ventil in der Musik.

-[...]die Figur des Deutschlehrers gewinnt wahnsinnig an Tiefe[...]-

Nach kurzen Szenen, in denen immer nur kleine Einblicke in die verschiedenen Identitäten und Hintergründe gegeben werden, folgt der erste richtige Monolog. Und zwar vom Deutschlehrer Stefan. Denn Stefan heißt eigentlich Sergej und wurde in der damaligen Sowjetunion, dem heutigen Kasachstan geboren. Er erzählt davon, wie sie sich nach dem Ende der DDR erhofft hatten, sich ein neues Leben in Deutschland aufbauen zu können. Es kam jedoch alles anders und so taucht man in die oft sehr beschwerliche Geschichte dieser Familie ein. Hier gewinnt die Geschichte und vor allem die Figur des Deutschlehrers wahnsinnig an Tiefe, denn hinter dem sich so pädagogisch und politisch korrekt ausdrückenden Stefan verbirgt sich die schwere Vergangenheit Sergejs.



Auch wenn an diesem Abend öfter der Ausruf „Wie kann ich den Nahost-Konflikt lösen?“ zu hören ist, gibt das Stück auf diese Frage natürlich keine Antwort. Eine so hochkomplizierte Situation lässt sich nicht in 90 Minuten durch ein Theaterstück lösen, was selbstredend auch nicht Ronens Anspruch war. Das Stück zeigt jedoch auf, wie wichtig es ist, die Hintergründe der Menschen, denen wir begegnen, kennenzulernen, um nicht nur sie besser zu verstehen, sondern auch uns selbst. Ob man für alles eine Lösung finden kann, ist ungewiss. Doch wie Noa am Ende so schön sagt: „Nur weil es unglaublich ist, heißt es nicht, dass es unmöglich ist.“ Auch wenn das Stück nicht die Welt retten kann, so hat es doch wenigstens den Blick für andere Perspektiven geöffnet. Und das ist immerhin der erste Schritt.

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