Gelungene Performance mit Tiefgang - Evros Walk Water (Rimini Protokoll)
Evros, eine Provinz
Griechenlands direkt an der türkischen Grenze. Hier verbinden sich die
Geschichten von fünf Jugendlichen aus Eritrea, Syrien, Afghanistan und
Pakistan, die ohne ihre Eltern nach Europa gekommen sind. Sie lernen sich in
der temporären Herberge Society for the Care of Minors für unbegleitete
flüchtende Minderjährige kennen. Dies ist auch der Ort, an dem Daniel Wetzel
vom Performancekollektiv Rimini Protokoll ihnen den US-amerikanischen
Komponisten und Künstler John Cage vorstellt. Es wird ihnen ein Video aus dem
Jahre 1959 gezeigt, in dem Cage Geräusche mit verschiedenen Haushaltsgeräten zu
einer Komposition anordnet - Water Walk nennt sich das Ganze. Hiermit wird die
Idee zu „Evros Walk Water“ geboren, in denen diese Performance nachgespielt
wird, jedoch mit Gegenständen, die die Geschichten der Jugendlichen
reflektieren.
Vorstellung
vom 15. Juni 2017 am Hebbel am Ufer
Rezension von Jessica Müller
Diese sind schwer in
Worte zu fassen. Was die Kinder erlebt haben, ist einfach nicht vorstellbar.
Sie erzählen von den Schwierigkeiten und Hürden, denen sie sich auf ihrer Reise
stellen mussten, obwohl das wahrscheinlich noch eine milde Form ist, dies
auszudrücken. Sie erzählen von Todesangst, als von Polizisten auf sie
geschossen wurde oder der Menschenschmuggler plötzlich im Meer ihr Schlauchboot
zerschnitt. Sie erzählen von Vergewaltigungen, die ihnen angetan wurden und von
Prügel und Folter. Sie erzählen von der Mutter, die eines Tages einfach nicht
mehr da war und ihnen nach 20 Tagen mitteilte, sie sei bereits in Slowenien und
sie erzählen von Menschenrechtsverletzungen und Diktaturen im eigenen Land.
Doch sie erzählen auch von Freundschaft. Von Zusammenhalt, von Hoffnung.
Träumen von der Zukunft und genießen es, im Moment zu spielen, zu lachen und zu
lernen.
-Das Publikum als Akteur-
Das Konzert von Water
Walk zwischendrin wirkt wie eine Auflockerung der düsteren Geschichten. Das
interessante hierbei ist jedoch, dass nicht die Kinder das Konzert spielen,
sondern das Publikum. Der Publikumsraum bleibt diesen Abend leer, denn alle
Zuschauer*innen stehen selbst auf der Bühne. Das Bühnenbild setzt sich aus
verschiedenen, durchnummerierten Stationen zusammen. Da haben wir das große,
mit etwas Wasser gefüllte Schlauchboot in der Mitte, ein ferngesteuerter
Miniferrari, ein DJ-Pult, Megafone und später kommt noch ein Drahtzaun hinzu.
Auf all diesen Gegenständen soll jetzt also John Cages Water Walk nachgespielt
werden. Die Jugendlichen selbst sind nicht anwesend. An jeder Station sind
jedoch Kopfhörer befestigt, durch die man nicht nur die Geschichten hört,
sondern in den Konzertsequenzen auch Anweisungen bekommt, was man zu tun hat,
um das Orchester zu bereichern. So fungiert das Publikum als Akteur auf der
Bühne und die Jugendlichen sind sowohl Protagonisten als auch Regisseure und
Dirigent*innen.
Das funktioniert
erstaunlich gut und dadurch, dass man von den Kindern auch immer wieder an
andere Stationen geschickt wird, wird es nie langweilig. Mal darf man die
Blumenvase ins Wasser stellen, mal ein Buch laut zu klappen, ein anderes Mal
Bier in Gläser füllen. Doch auch während der Erzählsequenzen passieren Dinge
auf der Bühne. So zum Beispiel als sich drei der Jugendlichen voneinander
verabschieden müssen. Hierbei werden die Menschen, die an den drei
verschiedenen Stationen sitzen, die erwähnt werden, indirekt dazu aufgefordert,
die Situation zu reenacten und so hatte ich plötzlich zwei wildfremde Menschen
links und rechts von mir und wir legten uns einen Arm um die Schulter. Während
aber die Geschichte erzählt wird und wir drei uns am Ende umarmen, habe ich
nicht das Gefühl, dass es sich hierbei um fremde Menschen handelt. Sondern ich
kann in diesem Moment die Verbundenheit der drei Jugendlichen spüren.
-verschiedene Einblicke, die nicht werten-
Evros Walk Water ist eine
der gelungensten Performances, die ich je gesehen habe. Während dieser einen
Stunde habe ich mitgefühlt, bewundert, gehofft, gebangt, war glücklich und
traurig. Mir gefällt, dass das Stück durch die Konzertsequenzen unterbrochen
und somit ein kleiner Moment der Distanz geschaffen wird, um reflektieren zu
können. Evros Walk Water ist weder eine Abwärtsspirale von todtraurigen
Ereignissen noch eine lockere Spaßnummer, sondern eine Performance mit
Tiefgang. Sie gibt verschiedene Blickwinkel und wertet nicht, sondern lässt
einfach mal diejenigen zu Wort kommen, die ihre Geschichte am besten kennen.
Und gerade dadurch wird beim Publikum eine besonders wichtige Fähigkeit in der
ganzen Flüchtlingsdebatte geschult: das Zuhören. Und wer weiß, vielleicht
lernen die Menschen ja tatsächlich irgendwann mal, sich gegenseitig zuzuhören
und somit aufeinander zuzugehen. Denn was in einer Performance klappt, muss
schließlich keine Utopie bleiben.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen