Bevor das eigentliche Stück „Paradies Fluten“ von Thomas Köck beginnt, darf
sich das Publikum aus nächster Nähe einen Eindruck vom Ensemble des Theater
Rampe und der backsteinhaus produktion aus Stuttgart machen. Denn zunächst wird
auf dem Vorhof des Deutschen Theaters die Performance „Museum des Kapitalismus“
gezeigt. Die Darsteller*innen und Tänzer*innen nehmen verschiedene Posen an,
fangen an, wild herumzutanzen oder versuchen, beim Laufen auf einem einzigen
hohen Schuh nicht hinzufallen. So ganz zugänglich ist diese Performance nicht,
auch nicht, nachdem ich das Stück gesehen habe. Hin und wieder werden dazu
Textpassagen vorgelesen, die jedoch so wirr und zusammenhanglos sind, dass ich
nicht weiß, worum es eigentlich geht. Ich bezweifle aber auch, dass das bei so
einem Text die Absicht ist. Zwischendurch weiß ich nicht, ob Dinge wirklich so
geplant sind, zum Beispiel als plötzlich an einer Stelle zwei Performer*innen
stehen statt sonst immer nur einer. Nach ca. 20 Minuten werden wir schließlich
innerhalb der Performance aufgefordert, nun den Bühnenraum zu betreten.
Vorstellung
vom 14. Juni 2017 am Deutschen Theater Berlin
Rezension von Jessica Müller
im Rahmen der Autoren-Theater-Tage
Sobald alle Zuschauer*innen ihren Platz gefunden, geht das Stück auch schon
los und zwar so energetisch wie ich es selten erlebt habe. Die erste Szene ist
eine wilde, chaotische Choreografie, begleitet von einer Live Band.
Musikalische Einschübe und Begleitungen tauchen immer mal wieder im Stück auf.
Die Performer*innen bewegen sich impulsiv, mal miteinander, mal in
Solosequenzen, doch es wird deutlich, dass hier jeder Schritt durchchoreografiert
ist, was mich ganz schön beeindruckt. Ich stelle es mir nicht einfach vor, so
viele verschiedene choreografische Abläufe gleichzeitig im Blick zu behalten.
Hier hat die Choreografin Nicki Liszta wirklich eine hervorragende Arbeit
geleistet. Die tänzerischen Sequenzen, die sich durch das gesamte Stück ziehen,
sind sehr gelungen und machen das Stück auf der einen Seite interessanter, auf
der anderen Seite auch ein Stück zugänglicher. Denn Liszta versteht es, Ideen
von Bildern mit Körperlichkeit darzustellen und auch wenn nicht alles lesbar
ist, so sind die Bewegungen doch nicht so undurchsichtig, dass eher eine
Distanz zwischen Publikum und dem Stück entsteht. An dieser Stelle muss aber
auch die unglaublich gute Performance der Tänzer*innen gelobt werden, die die
Kunst der Körperarbeit absolut beherrschen.
-omnipräsente Annahme der westlichen Gesellschaft-
Der Text selbst ist sehr abstrakt, das war mir im Vorhinein bereits klar.
Deshalb erwartete ich keine konsequenten Handlungsstränge auf der Bühne,
sondern war gespannt, wie diese Ideen, Gedanken und Fantasien szenisch
dargestellt werden können. Schließlich beginnt Köcks Text bereits mit den
Worten „ich empfehle / ein erschöpftes tanzensemble / ein ertrinkendes
symphonieorchester […] ein bühnenfüllendes schiffswrack / ein verlassenes
paradies“. Dass die Regisseurin Marie Bues hier eine Herausforderung erwartete,
ist logisch. Tatsächlich hat sie diese aber wirklich gut gemeistert. Durch das
Zusammenspiel von Musik, Choreografie, Text, Schauspiel und Videoprojektionen
wird das Stück zugänglich gemacht und ich erkenne doch den Zusammenhang
unterschiedlicher Handlungsstränge. Es geht um die omnipräsente Annahme der
westlichen Gesellschaft, dass nur der Weg, den sie gehen, der richtige sein
kann und dementsprechend wird ja anderen Menschen nur geholfen, wenn ihnen die
eigene Kultur und die eigenen Überzeugungen aufgezwungen werden. Dies wird
veranschaulicht an dem Beispiel eines Opernbauprojekts in Manaus, Brasilien,
der Kautschukausbeute durch die Europäer und einer mitteleuropäischen Familie,
in der der Vater von einer eigenen Autowerkstatt und die Tochter von einem Job
als gut bezahlte Tänzerin träumt.
Der einzige Kritikpunkt, den ich in der Inszenierung sehe, ist jedoch die
Rollenverteilung. Ein oder zwei Tänzer*innen haben so seltene Bühnenauftritte,
dass die ständige Bühnenpräsenz anderer Darsteller*innen fast schon
aufdringlich wirkt. Meiner Meinung nach sollte jedes Mitglied auf der Bühne
unentbehrlich gemacht werden, was hier leider nicht passiert ist. Andererseits
konnte während einigen Interaktionssequenzen im Zuschauer*inennraum ein
besserer Blick auf die Darsteller*innen erhascht werden. Die immer wieder
auftauchende Dekonstruktion der vierten Wand ermöglicht dem Publikum eine
größere Nähe zum Stück ohne jedoch, dass man sich in seiner Rolle als
Zuschauer*in bedroht fühlen müsste.
-viele verschiedene Sinneseindrücke-
Die Stuttgarter Inszenierung des doch recht schwierigen Textes „Paradies
Fluten“ hat mich absolut positiv überrascht. Tatsächlich kam während der
gesamten Spieldauer von 110 Minuten nicht eine Sekunde Langeweile auf, da
ständig etwas auf der Bühne passierte. Das heißt nicht, dass es nicht auch
ruhige Momente gab und schon gar nicht heißt es, dass es ein heilloses
Durcheinander gewesen ist. Nein, insgesamt war es eine Menge an verschiedenen
Sinneseindrücken, die für sich zwar nicht immer ganz einleuchtend waren,
zusammen jedoch auf irgendeine Weise Sinn ergaben. Auch wenn das Ende, das als
Abmoderation einer TV-Show inszeniert ist, ein wenig abrupt wirkt, so ist es
dem Ensemble jedoch gelungen, verschiedene Gedankenströme als künstlerische
Fluten auf die Bühne zu bringen. Im Endeffekt war es also genau das, was ich
mir erhofft habe: eine szenische Darstellung, die einen doch recht verworrenen
Text komplementiert. In anderen Worten – Kunst.