Theaterrezensionen

Unter der Erde - Über das spanische Plastikmeer



Paco Bezerra bringt mit „Unter der Erde“ sein zweites Theaterstück nach Göttingen und feierte mit der Inszenierung von Antje Thoms am Deutschen Theater Göttingen europäische Erstaufführung. Bezerra, der selbst im Publikum saß, ist 2009 mit dem spanischen Nationalpreis für Dramatik ausgezeichnet worden und lebt in Madrid und berichtet nun in seinem Stück von der gesundheitsschädlichen Arbeit als Plantagearbeiter in Spanien.
In El Ejido, -einer spanischen Stadt im autonomen Andalusien, verdient sich die Bevölkerung ihr Geld mit dem Anbau von Gemüse auf einer Fläche von etwa 36.000 Hektar. Die Fläche ist von Plastikbahnen überzogen und wird gemeinhin als „Plastikmeer“ bezeichnet.
„Aus dem Weltraum sehen die Astronauten nicht etwa große Gebäude, sondern eine riesige Straße aus Gewächshäusern“ , erzählt der junge Indalecio, gespielt von Anton von Lucke, dem Publikum. Indalecio, der jüngste Sohn in seiner Familie, wird von seinem Bruder José Antonio (Emre Aksizoglu) und seinem patriarchalischen Vater (Florian Eppinger) belächelt und unterdrückt. Der Vater ist Großgrundbesitzer und ist darauf erpicht, dass seine Söhne der Familientradition folgen und ihm im Gemüseanbau helfen. Die Familie ist von Schicksalsschlägen gezeichnet. Die Mutter ist gestorben, der älteste Bruder Ángel leidet an einer Hautkrankheit und der Vater siecht an einer Atemwegserkrankung dahin. Indalecio weiß, dass die Pestizide, die im Gemüseanbau eingesetzt werden, mit den Krankheiten zusammenhängen. 




Das will aber keiner hören, deshalb flüchtet Indalecio sich in seine selbstgeschrieben Geschichten, die während des Stückes lebendig und von den Darstellern in Szene gesetzt werden. Dabei wird Indalecios großer Held „Rambo“ mit dem Beamer auf die sonst herumwehenden Planen des Gewächshauses projiziert und man sieht dessen Gesicht, während sich Indalecio durch heranstürmende Angreifer kämpft. Das Bühnenbild von Beni Küngt ist sehr gelungen. Atmosphärisch wirkt es als sitze man selbst in einem Gewächshaus oder draußen auf den Planen. Durch das Licht wird einem warm, durch wehende Planen erlebt man einen Sturm und durch an die Planen projizierte Regentropfen steht man im Regen. In dieser düsteren Konstellation kommt Indalecio einem Geheimnis auf die Schliche und erkennt, dass sein Vater und Bruder Antonio nicht nur Gemüse in den Gewächshäusern anbauen. „Unter der Erde“ ist wie ein Thriller. 




Man wird mitgenommen durch eine intrigante Familiengeschichte, bei der niemandem zu trauen ist.Während des Stückes will man unbedingt wissen, was wohl hinter der ganzen Vertuschung um die Gewächshäuser steht und was wirklich ans Licht kommen wird. Durch die eingespielten Soundeffekte wirkt das Bühnenbild inklusive Handlung plastisch und nahbar. Mit jedem eingespielten Donnergrollen und den dazu an die Planen projizierten Regentropfen ist man gefühlt mittendrin. Angeregt von Indalecios Geschichte, bleibt die eigene Recherche um den Einsatz von Pestiziden auf Plantagen in El Ejido nicht aus. Paco Bezerra schafft es, dass man mit einigen Fragen nach Hause geht, die eine Auseinandersetzung mit jenem wichtigen Thema erfordern. Florian Eppinger als Vater und Emre Aksizoglu als Bruder verbünden sich gegen Indalecio und spielen ihre Rolle glaubhaft. Man fühlt mit Indalecio mit und würde ihm am liebsten selbst gegen seine Familienmitglieder beistehen. Benjamin Kempf spielt als Ángel die gute Seele neben Indalecio und stärkt ihn, wo er kann. Elisabeth Hoppe bringt durch ihren Einsatz in gleich mehreren Rollen viel Dynamik ins Schauspiel und bringt beispielsweise in ihrer Rolle als Scharlatanin und vermeintliche Hexerin sogar Lacher in die eigentlich düstere Handlung. Fazit: Ein packendes Stück, dass nicht mit dem Applaus beendet wird, sondern zu Hause bei der Recherche erst richtig beginnt.

Deutsches Theater: http://www.dt-goettingen.de/stueck/unter-der-erde/ 
BLICK: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/buehne-wird-zum-plastikmeer-d8128.html
Fotos: Isabel Winarsch


Romulus der Große - Ein Garant der Aktualität!


Die Premiere von „Romulus der Große“ im Deutschen Theater hätte nicht besser in den Zeitplan passen können. Zur Planung der neuen Spielzeit vor anderthalb Jahren konnte man noch nicht um die Aktualität der Inszenierung von „Romulus der Große“ unter der Regie von Matthias Kaschig am Deutschen Theater wissen. „Es scheint das Stück der Stunde zu sein“ , erzählt Pressesprecherin Inge Mathes. Denn damals wie heute ist Friedrich Dürrenmatts „ungeschichtlich historische Komödie“ ein Garant für Aktualität.



Das römische Reich ist bankrott. Romulus (Gerd Zinck) hat seit seiner Wahl zum Kaiser Roms weder Kopf für Finanzen, noch für die Expansion seines Reiches. Rom steht vor dem Untergang. Von allen Seiten fallen die Germanen ein und der Germanenfürst Odoarka (Bardo Böhlefeld) steht vor den Toren Roms. Während sich der Hofstaat um die Rettung der eigenen Haut kümmert und die Kaiserin Julia (Angelika Fornell) mit ihrer Tochter Rea (Dorothea Lata) nach Sizilien zu flüchten versuchen, kümmert sich Romulus um seine Hühnerzucht. Tobias Vethake unterstreicht mit seiner Musik den Untergang Roms mit kriegerischen, angeregten und düsteren Klängen.
Für Romulus war von Anfang an klar, dass ihm der Untergang Roms egal sei. Er will sich eine schöne Zeit machen und die Expansion des Reiches nicht vorantreiben, da diese nur zu Massenmorden geführt hatte und für ihn moralisch nicht vertretbar war. 



Romulus ist angstfrei, trotz des vermeintlichen Todes durch den Germanenfürsten, der ihm bevorsteht. Gerd Zinck spielt den Romulus mit einer stoischen Gelassenheit und unterstreicht die ihm zugeschriebenen Eigenschaften zur Gänze. Während der komplette Hofstaat zur Hysterie neigt, bleibt Romulus entspannt. Michael Böhler hat mit dem Bühnenbild ganze Arbeit geleistet. Ein zusammengebrochenes Haus und die Flagge Westroms, lassen das Publikum auf ein heruntergekommenes Rom blicken. Erich Siedler bezog das Stück nach der Aufführung wie folgt auf die aktuelle Situation: „Die Menschen sind blind vor Angst. Doch Freiheit hat nichts mit Angst zu tun und beeinflusst uns nicht zum Guten.“ Wem die aktuelle politische Situation zusetzt und wer einmal einen Perspektivenwechsel zur Flüchtlingspolitik braucht, um die Lage einzuschätzen, sollte sich Romulus nicht entgehen lassen.

Interview mit den Darstellern: https://www.youtube.com/watch?v=aWVcJaBhoV8

Fotos: Thomas M. Jauk


Zum Nachdenken und Lachen: „Bezahlt wird nicht!“ feiert Premiere im Jungen Theater

 
Eva Schröer, Jan Reinartz, Linda Elsner (v.l.) in „Bezahlt wird nicht!“. Foto: Heise / EF


Göttingen. Dario Fos Komödie „Bezahlt wird nicht!“ feierte am vergangenen Donnerstag Premiere im Jungen Theater. Inszeniert wurde das Stück von Christine Hofer. Vor vollbesetzten Rängen spielten die Schauspieler eine zynische Komödie des Literaturnobelpreisträgers.
Damals noch als Politfantasie gegolten, thematisiert das Stück Wirtschaftskrisen, Politikerlügen und eine sich andeutende Anarchie in der Bevölkerung. Erstaufführung feierte das Stück im Jahr 1974 und wurde von Kritikern und Journalisten nicht ernst genommen. Wenige Jahre später ereigneten sich wie in einer selbsterfüllenden Prophezeiung genau jene Ereignisse, die im Stück verarbeitet werden – und die Thematik ist auch heute immer noch aktuell. Aus einem kleinen Ereignis spinnt sich eine große Geschichte.

In einem Mailänder Vorort kehrt die rebellische Antonia nach Hause zurück und entrüstet sich über erhöhte Lebensmittelpreise. Sie zettelt den Aufstand an. Dabei hat sie selbst Waren aus dem Supermarkt geklaut und laut „Bezahlt wird nicht““ gerufen. Ihre Freundin Margherita hilft ihr, die Lebensmittel zu verstecken, täuscht deswegen eine Schwangerschaft vor und stopft Nudeln unter ihren Mantel.

Nun müssen Antonia und Margherita alle täuschen: Vor ihren Ehemännern müssen sie gute Miene machen, denn keiner erinnert sich daran, dass Margherita schon eine Woche zuvor im neunten Monat schwanger war. Auch vor der Polizei muss die ein oder andere Ausrede erdacht werden. Ausgehend von der vorgetäuschten Schwangerschaft, entwickeln sich Diskussionen über das Gesundheitssystem oder die Polizei.

Spannend und witzig zugleich brachten die Schauspieler das Publikum neben gekonntem Slapstick und mit wortgewandten Dialogen zum Lachen. Die Silvestervorstellung von „Bezahlt wird nicht!“ ist schon bis auf wenige Plätze ausverkauft.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/zum-nachdenken-und-lachen-bezahlt-wird-nicht-feiert-premiere-im-jungen-theater-d8058.html
Zum Jungen Theater Göttingen: http://www.junges-theater.de/content/


Hilfe gegen Dürre: JT zeigt mit „Die Regentrude“ ein Schauspiel für die Jüngsten

 

Turbulent und unterhaltsam: „Die Regentrude“ im JT. Foto: Heise / EF




Göttingen. Das Junge Theater Göttingen feierte kürzlich die Premiere des Stücks „Die Regentrude“ nach dem Märchen von Theodor Storm. Intendant Nico Dietrich und der künstlerische Leiter Tobias Sosinka brachten viele moderne Aspekte in das 1863 geschriebene Kunstmärchen ein.
Bevor das eigentliche Märchen erzählt wurde, machten die Schauspieler Kathrin Müller-Grüß, Norman Grüß und Agnes Giese auf den Wasserverbrauch aufmerksam. Das für Kinder ab acht Jahren geschriebene Stück fand dabei viele aufmerksame Zuhörer. Der Wasserverbrauch für eine Jeans liege bei ungefähr 8000 Litern – die Schauspieler halfen den Kindern, sich diese Menge vorzustellen.

Zur Thematik passend liefert das Märchen der Regentrude weitere Anhaltspunkte, um sich über den Wasserverbrauch Gedanken zu machen. Eine Dürreperiode sucht das Land heim, und den Temperaturen gemäß wächst kein Gras mehr. Das Bühnenbild ist dementsprechend karg und einfach gehalten. Durch die Hitze ist die Heuernte stark eingeschränkt – außer für einen Wiesenbauern (Norman Grüß), der ein tiefliegendes Stück Land hat, und daher viel Geld erwirtschaften konnte.

Stine (Agnes Giese), die Nachbarin des Bauern, schickt ihren Sohn Andrees mit Maren (Kathrin Müller-Grüß), der Tochter des Wiesenbauern, los, um die „Regentrude“ zu wecken. Sobald diese wach ist, werde es wieder regnen. Auf ihrem Weg zur Retterin müssen sich Andrees und Maren den Vers eines Kobolds merken, damit die Regentrude wieder erwacht. Die Schauspieler fangen an den Vers zu singen, und der Kobold fängt sogar an zu rappen. Das macht das Stück zu einer spannenden und musikalischen Darstellung.

Die Schauspieler fesselten die Kinder; die jungen Besucher fieberten mit – bis zum Vorstellungsende. Abschließend wurde Lena Tamsma aus der KGS Moringen für den ersten Platz beim Malwettbewerb zur „Regentrude“ ausgezeichnet. Ihr Bild hängt jetzt als Plakat in ganz Göttingen und wirbt für die kommenden Vorstellungen des Stückes. Unterstützt wird „Die Regentrude“ von den Stadtwerken Göttingen.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/hilfe-gegen-duerre-jt-zeigt-mit-die-regentrude-ein-schauspiel-fuer-die-juengsten-d7950.html
Zum Jungen Theater Göttingen: http://www.junges-theater.de/content/



Publikum vor Dilemma: „Terror“ von Ferdinand von Schirach feiert Premiere am DT

 

Spannend: Gerd Zinck, Florian Eppinger, Andrea Strube (v.l.) in „Terror“. Foto: EF

 

Göttingen. Ist Soldat Lars Koch schuldig oder nicht? – Das war am vergangenen Sonnabend die große Frage bei der Premiere des Theaterstücks „Terror“ von Ferdinand von Schirach.
Von Schirach ist Strafverteidiger, Schriftsteller und dem großen Publikum durch seine Bücher wie „Verbrechen“ oder seine Mini-Serie im Fernsehen „Verbrechen nach Ferdinand von Schirach“ bekannt. Unter der Regie von Katharina Ramser stellten sechs Schauspieler ein Gerichtsverfahren nach. In diesem fiktiven Fall wurde ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen von Terroristen gekapert. Der Soldat Lars Koch entscheidet sich eigenständig und gegen den Befehl des Vorgesetzten für den Abschuss des Flugzeugs.

Dadurch stürzt das Flugzeug nicht in die voll besetzte Allianz-Arena in München, in der zu der Zeit ein Länderspiel mit 70 000 Menschen stattfindet, sondern es stürzt auf einen naheliegenden Kartoffelacker.

Das Publikum ist in diesem Theaterstück Richter und muss sich einem moralphilosophischen Dilemma stellen. Das Publikum muss entscheiden, ob die Entscheidung von Koch, 164 Menschenleben zu opfern, um 70 000 Leben zu retten, die richtige war. Nach dem Plädoyer von Staatsanwalt und Verteidigung ist es nicht so einfach sich zu positionieren. Der Ausgang des Stücks ist offen. Ob Lars Koch freigesprochen oder für schuldig befunden wird, liegt in der Hand des Publikums.
Dieses stimmt letztlich ab und stellt sich der Frage nach der Würde des Menschen.

Durch die Zwickmühle und die eigene Entscheidungsgewalt bleibt das Stück dauerhaft spannend und lässt den Zuschauer auch nach dem Besuch des Theaters nicht so schnell wieder los. Von Schirachs Bühnendebüt ist zurzeit bundesweit ein großer Erfolg und wurde auch in Göttingen mit „Bravo“-Rufen gerühmt.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/publikum-vor-dilemma-terror-von-ferdinand-von-schirach-feiert-premiere-am-dt-d7855.html 
Zum Deutschen Theater Göttingen: http://www.dt-goettingen.de/

 

 

Spielzeiteröffnung am Deutschen Theater mit "Die Schutzbefohlenen"

 

Nahezu das gesamte Ensemble wirkt bei den „Schutzbefohlenen“ im DT mit. Foto: Georges Pauly / DT



 

Göttingen. Die neue Spielzeit im Deutschen Theater (DT) begann am 26. September mit einer klaren Botschaft. Unter der Regie von Erich Sidler feierte „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek Premiere.
In dem zweistündigen wortgewaltigen Stück erzählt nahezu das gesamte DT-Ensemble die Geschichte von Flüchtlingen, die an der Grenze zur westlichen Gesellschaft stehen und mit den immer gleich bleibenden Aussagen vor dem Einlass ins neue Leben zurückgehalten werden.

Jelinek wurde bei der Schaffung ihres Stückes von mehreren Seiten beeinflusst. Zum einen kamen viele Einflüsse aus der Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos, in der es um die Fähigkeit zum Mitleid in der Gesellschaft geht. Aber auch Nuancen von Ovids Metamorphosen sowie aus dem Text „Zusammenleben in Österreich“ aus dem Bundesministerium für Inneres (Staatssekreatriat für Integration) und eine Prise des Philosophen Martin Heidegger sind enthalten.

„Gibt es diesen Herrn Präsidenten, gibt es den Herrn, den allaufnehmenden? Nein, es gibt ihn nicht. Es gibt keinen Allaufnehmenden“, rufen die Schauspieler. Teils einzeln, teils in Sprechchören tragen die Flüchtlinge ihr Leid an das Publikum heran und gehen zu diesem Zweck auch über die Bühne hinaus in die Ränge des Theaters, um mit allen Mitteln nah am Zuschauer zu sein. Das Bühnenbild wurde stark reduziert; es wird mit Lichteffekten und Liedern gearbeitet. Das unterstreicht die Trostlosigkeit der Flüchtlinge.

„Die Schutzbefohlenen“ beschäftigt sich mit der Kontroverse des freien Lebens, das jeder Flüchtling anstrebt. Jelinek ist wichtig zu betonen, dass Europa im 21. Jahrhundert eine Verantwortung gegenüber den Flüchtlingsscharen hat. Das Publikum honorierte die Leistung der Schauspieler, die die Thematik überzeugend präsentierten.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/spielzeiteroeffnung-am-deutschen-theater-mit-die-schutzbefohlenen-d7809.html 
Zum Deutschen Theater Göttingen: http://www.dt-goettingen.de/

 

 

Deutsche Erstaufführung: "Grooming" im Deutschen Theater

 

Aus dem Jagenden wird der Gejagte: Nach sexuellen Übergriffen übt Carolina Rache an Cecilio. Foto: EF

 

Göttingen. Das Deutsche Theater setzt sich in der laufenden Spielzeit mit Themen auseinander, die viele Menschen betreffen könnten oder wenigstens betroffen machen. Am 16. Mai feierte die Inszenierung „Grooming“, aus dem Spanischen von Paco Bezerra, in Göttingen Premiere.
Mit dem Begriff „Grooming“ wird die sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen über das Internet bezeichnet. Unter der Regie von Intendant Erich Sidler entwickelt sich mit den Schauspielern Vanessa Czapla und Andreas Jeßing eine schaurige deutsche Erstaufführung. Innerhalb eines reduzierten Bühnenbildes verkörpern die Schauspieler zwei sexuell gestörte Menschen.

Jeßing spielt Cecilio, der ein vermeintlich sechzehnjähriges Mädchen, Carolina (Czapla), über das Internet erpresst und sie dazu drängt, ihm sexuelle Dienste zu leisten. Dabei gibt er sich auch als Jugendlicher aus, um das Mädchen später in der Realität in eine Falle zu locken.

Sie sitzt am Anfang des Stückes alleine auf einer Parkbank. Dort nötigt er Carolina zu sexuellen Diensten. Anschließend stellt sich aber heraus, dass Carolina nur ein sechzehnjähriges Mädchen spielt und damit gestörte Männer in die Falle lockt. Sie selbst will eigentlich Rache üben an Cecilio, der sich schon an vielen Kindern vergangen hat. Während des Stückes verlagern sich die Machtverhältnisse und aus dem Jagenden wird der Gejagte.

In der Inszenierung wird viel mit Stille gearbeitet. Jeder Satz verlangt nach einer Pause. Durch dieses Stilmittel wird das Schauspiel düster und intim. Einzelne Stellen des Dialogs verleiten zwar zum Lachen, jedoch wird im nächsten Moment wieder das groteske Szenario bewusst, in dem sich die Schauspieler befinden. Der Thriller macht in seinem Verlauf noch einige Wendungen durch und entpuppt Facetten der Charaktere, die auf den ersten Blick nicht einsehbar waren. Durch die schauspielerische Leistung wird dies unterstrichen und regt nachhaltig zum Denken und Aufklären an.

Die Thematik kann aktueller nicht gewählt sein, da über Streaming-Plattformen heutzutage viele Kinder und Jugendliche im Internet ohne Schutz unterwegs sind. Dort zeigen sie sich vor ihrer Webcam im eigenen Kinderzimmer und könnten von sexuell gestörten Menschen aufgefordert werden, sich nackt zu zeigen. Die Inszenierung von „Grooming“ hat das Potenzial, das Publikum wachzurütteln und auf Gefahren des Internets aufmerksam zu machen – denn hinter einem Nickname können sich Triebe und dunkle Fantasien verstecken.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/deutsche-erstauffuehrung-grooming-im-deutschen-theater-d7449.html
Zum Deutschen Theater Göttingen: http://www.dt-goettingen.de/




Gekonntes Spiel mit Gefühlen und Gedanken

 

Huckleberry Finn legt mit Tom Sawyer (vorne sitzend li.) und Pit Harper (re.) einen Schwur ab. (Foto: DT)



 

Göttingen. Die neue Saison unter der neuen Intendanz von Erich Sidler hat im Deutschen Theater begonnen. Auf die Uraufführung von „Homo Empathicus“ folgte die Uraufführung von Mark Twains „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ – unter der Regie von Lilja Rupprecht und der musikalischen Leitung von Michael Frei, mit erstmals veröffentlichter Musik von Kurt Weil.
In dem Stück beobachten Tom Sawyer und Huckleberry Finn einen Mord und fliehen aus Angst vor Rache durch den Täter. Letztlich sagen die beiden vor Gericht aus und verhindern damit das Hängen des fälschlich Angeklagten. Tom durchlebt sein erstes Verliebtsein; Huck wird durch die Dorfgemeinschaft wertgeschätzt und findet in ihr ein neues Zuhause.

Lilja Rupprecht bedient sich verschiedener Stilmittel, die das Stück unvergesslich machen. Schon der Anfang des Stückes ist anders: Ein alter Tom Sawyer, gespielt von Florian Eppinger, steht auf der Bühne und spricht in einem Monolog: „Seit Stunden sprudeln Erinnerungen aus mir hervor. Das alte Leben öffnet sich vor mir wie ein Panorama. Die alten Tage ziehen in all ihrer Pracht wieder an mir vorbei. Die alten Gesichter steigen aus dem Nebel auf. Und die Lieder, die ich liebte, klingen klar.“ Daraufhin erklingen die Klänge der „alten Tage“, gespielt von einem Orchester auf der Bühne.

Die Songs wurden von Kurt Weill geschrieben und mit einer eigens geschriebenen Bühnenfassung von John von Düffel uraufgeführt. Der zurückblickende Tom Sawyer bringt eine eigene Dynamik auf die Bühne. Sein junges Ich, gespielt von Moritz Schulze, kann manchmal zuhören oder mit ihm sprechen. Manchmal übernimmt auch sein älteres Ich den Dialog und spricht die Texte mit.

Geprägt ist das Stück von einem schnellen Umschwung von Emotionen. In einem Moment wird das Publikum durch einen Streich von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zum Lachen gebracht – und im nächsten Moment redet Tom Sawyer in seiner älteren Version zu seiner Geliebten Becky, die nur noch in seinen Gedanken lebt, eigentlich schon tot ist. So kommt es zu Denkanstößen über Leben und Tod und gleichzeitig zu einem Schmunzeln und Mitlachen über Jugendstreiche. Als weiteres Stilmittel führt Rupprecht eine Kamera ein, die einzelne Szenen hinter einer Wand filmt und auf selbige projiziert. Es entsteht der Eindruck, als schaue man einen alten Film über Tom Sawyer.

Nachtkritik.de schrieb schon zur Uraufführung von Homo Empathicus: Ein staatlich sanktionierter Störer soll das Deutsche Theater unter der neuen Intendanz sein, ein Ort, der vielleicht die Gesellschaft nicht verändert, aber dann doch Unangenehmes in diesem Schutzraum Theater zu den Menschen trägt, um sie zu stören und zum Nachdenken zu bringen.

Trotz des vielen Lachens während der Aufführung bleiben Gedanken über das Älterwerden und Zurückblicken auf die Jugend zurück. Ein gekonntes Spiel mit Gefühlen und Gedanken, die bewegen.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/gekonntes-spiel-mit-gefuehlen-und-gedanken-d6537.html
Zum Deutschen Theater Göttingen: http://www.dt-goettingen.de/




Emotionale Debatte um Leben und Tod

 
Parsifal und Kundry führen intensive Gespräche über den Tod. Foto: Clemens Eulig

Göttingen. Das Stück „Parsifal – einer von uns, mit uns, unter uns“ von der freien Künstlergruppe „kidnap someone and make him happy“ feierte kürzlich Uraufführung im Jungen Theater. In einer sehr modernen Form, angelehnt an Richard Wagners Parsifal, treffen Kundry und Parsifal, gespielt von Constanze Passin und Gintas Jocius, in einer Notaufnahme aufeinander.
„Macht die Augen zu. Macht die Augen zu“, fordern sieben Kinder zu Beginn der Inszenierung das Publikum auf. Nachdem die Zuschauer zwanzig Sekunden als Countdown runtergezählt haben, sitzt Constanze Passin in ihrer Rolle als Kundry anmutig in einem Schwanenkostüm in einem schlichten Bühnenbild zwischen sechs Bäumen auf einer Box.
Wagners Musik wird unter anderem durch sieben Kinder gespielt und unterstreicht die starke Stimme von Opernsängerin Ute Eisenhut. Eisenhut fügt während der modernen Inszenierung von Wagner Passagen der Oper ins Stück ein.

Kundry trifft in einer Notaufnahme das erste Mal auf Parsifal und gibt sich als Hypochonder zu erkennen. Nachdem Kundry sich beispielsweise eine Extrauteringravidität zuschreibt, ruft sie ihre Mutter an, um ihr neu eingebildetes Leiden mitzuteilen. Diese reagiert schon gar nicht mehr richtig auf ihre Tochter. Kundry stellt immer wieder ihren Tod in eleganten Ballettpositionen dar und kündigt des öfteren bestimmt ihren Todesakt an, welcher aber nie eintreten mag.

Durch die Gespräche mit dem allzeit beschwichtigenden Parsifal stellt sich erst die Tiefe ihrer psychischen Probleme heraus. Parsifal unterstellt ihr eine „ausgeprägte Todesfurcht“ – und daraus resultieren die exzessiven Arztkonsultationen. Es geht in „Parsifal“ um die Auseinandersetzung mit Leben und Tod; „über den Tod kann man nie vernünftig reden“, bemängelt Parsifal. Kundry fällt in dieser Aufführung durch ihre vielen hysterischen Momente auf und begründet dies so: „Man wird nicht als Schwan geboren, sondern zum Schwan gemacht.“

Die Uraufführung arbeitet mit viel Metaphorik und zeigt im Zusammenspiel mit der zarten musikalischen Untermalung eine sehr skurrile Sichtweise auf das Leben. „Mit Toten lebt es sich viel einfacher als mit Lebenden. Menschen sind so furchtbar lebendig“, sagt Kundry. Immer wieder kommen dabei die tiefen Gräben zwischen Ihr und der Mutter zustande, die von ihrer Psychologin sogar geraten bekommt, keine Anrufe mehr von Kundry entgegenzunehmen.
In Wagners Original findet Parsifal durch die Gralsbotin Kundry zu Erkenntnis und Herkunft, nachdem er einen Schwan geschossen hat, von den Rittern des Grals zur Rede gestellt wird und seine Unwissenheit erkennt. Die neue Interpretation hat auch den Schuss auf den Schwan als Trauma Parsifals, doch wird er hier durch die sehr labile Kundry über tiefgreifende Dialoge über Emotion, Leben und Tod zu seinem Erkennen geführt. Die beiden Protagonisten finden zum Ende des Stücks zueinander und teilen in ihrer Zusammenkunft Empfindsamkeit, Schmerz und Mitleid und finden ineinander Zuwendung.

Zum Artikel: http://www.die-wochenblaetter.de/goettingen/lokales/emotionale-debatte-um-leben-und-tod-d5919.html
Zum Jungen Theater Göttingen: http://www.junges-theater.de/content/


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